„Arten- und Klimaschutz zusammendenken!“
Interview mit der Landesvorsitzenden Dr. Heide Naderer zur Landtagswahl
Am 15. Mai wählt NRW einen neuen Landtag. Nachdem der Bund derzeit die Leitplanken der Klima-, Umwelt- und Naturschutzpolitik neu einzieht, bleiben bei der Umsetzung auf Landesebene immense Spielräume offen. Wie die kommende Landesregierung diese Spielräume nutzen sollte und welche Herausforderungen auf NRW kommen, darüber hat unser Redakteur Hannes Huber mit der NABU-Landesvorsitzenden Dr. Heide Naderer gesprochen.
Frau Naderer, wo steht NRW im Umwelt- und Naturschutz nach fünf Jahren Schwarz-Gelb?
Heide Naderer: Der Stellenwert von Natur- und Umweltthemen in der Landespolitik hat in der vergangenen Legislatur abgenommen. Das ist angesichts der weltweiten Artenkrise natürlich fatal. Das Primat der Planungsbeschleunigung und der wirtschaftlichen „Entfesselung“ hat die Krise weiter verschärft.
Ökologie war kein Thema für die Regierung Laschet?
Doch, natürlich. An ökologischen Themen kommt heute niemand mehr vorbei. Das Klimaanpassungsgesetz etwa war durchaus ein guter Schritt in die richtige Richtung, wenngleich zu unverbindlich. Allerdings hat Schwarz-Gelb die Umweltpolitik komplett auf die Klimakrise fokussiert – und alle anderen wichtigen Aspekte vernachlässigt. Der Naturschutz hatte beispielweise in der Landesregierung keine Lobby. Die notwendige Sicherung der biologischen Vielfalt spielt bislang in NRW nicht die Rolle, die nötig wäre.
Woran wird das deutlich?
Das sehen wir selbst in den Gebieten, die eigentlich für die Natur reserviert sein sollten. In Naturschutzgebieten werden nach wie vor Pestizide und Mineraldünger eingesetzt. Das ist doch absurd! Wir fordern die nächste Landesregierung dringend auf, diese Praxis zu beenden – im Dialog mit uns und den Landwirtinnen und Landwirten. Naturschutzgebiete müssen die Natur schützen. Und wir brauchen endliche einen funktionierenden Biotopverbund, um die einzelnen Gebiete miteinander sinnvoll und funktional zu verknüpfen.
Gibt es neben diesen Versäumnissen auch konkrete Fehlentscheidungen der Landesregierung, die Sie kritisieren?
Die „rote Linie“ für alle Naturschutzverbände in NRW hat das Land im Sommer 2019 überschritten, als sie das Fünf-Hektar-Ziel im Landesentwicklungsplan gestrichen hat. Der Flächenverbrauch ist und bleibt eines der zentralen Themen für uns im Naturschutz. Wer hat Zugriff auf die Fläche? Wie werden die Interessen von Landwirtschaft, Windenergie-Firmen, Industrie und Naturschutz austariert? Mit der Streichung des Fünf-Hektar-Ziels hat die Landesregierung einen gewaltigen Fehler gemacht und gezeigt, dass sie die Bedeutung von Freiflächen und ungenutzten Brachen nicht verstanden hat und offenbar nicht im notwendigen Maße wertschätzt. Dabei sind sie für die Natur von entscheidender Bedeutung – ungenutzt heißt nicht nutzlos! Zu dieser Zeitwuchs bei uns Naturschutzverbänden das Gefühl: So kann es nicht weiter gehen, jetzt müssen wir handeln! Und daraus ist dann auch die Volksinitiative Artenvielfalt NRW entstanden.
... die der Landtag im vergangenen Jahr krachend scheitern ließ.
Die Landesregierung hat mit der brüsken Ablehnung der Volksinitiative das wirklich beeindruckende Engagement der unzähligen Naturschutz-Aktiven mit Füßen getreten – ganz zu schweigen davon, dass unsere Forderungen in der Sache überaus dringend und inhaltlich hervorragend begründet sind. Das werden wir nicht vergessen. In anderer Hinsicht sind wir jedoch nicht gescheitert.
In welcher?
Mit der Volksinitiative haben wir unsere Themen und Forderungen wieder auf die Agenda der Politik gesetzt und ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht. Das wirkt nach. Nicht ohne Grund hat Hendrik Wüst in seiner Regierungserklärung die Bewahrung der Schöpfung als eine Hauptaufgabe bezeichnet. In einem gemeinsamen Brief mit den Vorsitzenden aller 52 NABU-Kreis- und Stadtverbänden habe ich den Fraktionsspitzen deutlich mitgeteilt, welche Empörung die Ablehnung der Volksinitiative und die Missachtung des ehrenamtlichen Engagements bei uns ausgelöst hat. Ich weiß aus vielen Gesprächen, dass diese Botschaft angekommen ist.
Wer auch immer die Wahl gewinnt – der Ausbau der erneuerbaren Energien wird weiter für hitzige Diskussionen sorgen. Wie optimistisch sind Sie, dass es hier gute Lösungen geben wird?
Das Ziel muss sein, Arten- und Klimaschutz zusammenzudenken und nicht gegeneinander auszuspielen. Beide berühren unsere Lebensgrundlagen ganz unmittelbar. Ich habe den Eindruck, dass das noch nicht in allen Köpfen angekommen ist. Die Politik neigt dazu, die Dringlichkeit der Artenkrise zu ignorieren. Solange diese Wahrnehmung vorherrscht, wird es keinen funktionieren- den Interessensausgleich geben. Klar ist aber auch: Wir alle werden Kompromisse machen müssen.
Geht das denn, der Arten- und der Klimakrise zugleich gerecht zu werden?
Davon bin ich überzeugt – wenn wir beides ernst nehmen.
Was bedeutet das konkret?
Dass wir etwa die Windkraft dort ausbauen, wo die geringsten Schäden entstehen und andere Gebiete freilassen, zum Beispiel unsere wertvollen Schutzgebiete, die Dichtezentren windkraftsensibler Arten und auch die Wälder.
Gerade um Windkraft im Wald gibt es ja immer wieder Streit.
Das stimmt. Aber der Wald ist kein Gewerbegebiet. Wald ist wichtig für die Natur, gerade auch in unserem dicht besiedelten und in weiten Teilen von der Industrie geprägten Bundesland. Auch auf Flächen, die Borkenkäfer oder Stürme entwaldet haben, entwickeln sich wertvollste Lebensgemeinschaften. Diese Flächen müssen freibleiben. Wenn ich sehe, wie manche Kräfte Wind- energieanlagen auch auf den naturschutzfachlich wertvollsten Flächen bauen wollen, muss ich sagen: Das geht so nicht und diese Flächen werden wir nach Kräften gegen die Ansprüche der Windindustrie verteidigen.
Haben wir in NRW genügend Flächen, auf denen sich die Windkraft naturverträglich ausbauen lässt?
Davon gehe ich aus – vor allem, wenn das Land die unselige Abstandsregelung wieder abschafft, wonach Windräder mindestens 1.000 Meter Abstand von jeglicher Wohnbebauung einhalten müssen. Man geht davon aus, dass wir zwei Prozent der Landesfläche für den Ausbau der Windkraft benötigen. Die in Kürze erscheinende Windpotenzialstudie des Landesamts für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz wird zeigen, wo genau wir stehen.
Was sollte die kommende Landesregierung mit Blick auf die Windkraft tun?
Wichtig ist, dass sie die Erhaltung der biologischen Vielfalt gleichwertig mit dem Klimaschutz mitdenkt. Daher sollte sie bei der leider in weiten Gebieten fehlenden Regionalplanung in NRW – uns Naturschutzverbände gleich zu Anfang in die Auswahl der Ausbaugebiete einbeziehen. Denn unsere Aktiven kennen die Flächen vor Ort am besten und können von vornherein sagen, wo Planungen sinnvoll und wo sie zum Scheitern verurteilt sind. So können wir die größten Konflikte gleich zu Beginn entschärfen.
Sehen Sie mit Sorge, dass im Zuge der allgemein geforderten Planungsbeschleunigung Naturschutzbelange hinten runterfallen?
Wir sollten Planungen nicht primär beschleunigen, sondern sie verbessern. Dann werden sie von alleine schneller. Das beginnt bei der Digitalisierung und endet bei der Qualität der Fachgutachten, die erstellt werden. Die Frage müsste doch sein: Wodurch werden Planungsprozesse derzeit am meisten gebremst? Dort muss das Land dann ansetzen. Diese Frage hat aber bislang niemand konsequent abgearbeitet. Selbstverständlich ist, dass der NABU weiterhin darauf achten wird, dass die rechtlichen Vorgaben zum Schutz der biologischen Vielfalt eingehalten werden.
Frau Naderer, zum Abschluss: Unabhängig vom Wahlausgang – welche drei Wünsche haben sie an die kommende Regierung?
Erstens: Die Biodiversitätskrise erkennen und ernst nehmen. Zweitens: Schutzgebiete konsequent schützen! Und drittens: Die Stimme des Ehrenamts hören und ernst nehmen. Das Wichtigste ist bei allen Punkten: Die Regierung muss Erkenntnissen auch konkrete Handlungen folgen lassen!
Unsere Forderungen zur NRW-Landtagswahl 2022
mehr
Die Landtagswahl ist wichtig für Natur und Umwelt: Die zukünftige Landesregierung Nordrhein-Westfalens hat die Chance, bei der Klima und Biodiversitätskrise das Ruder herumzureißen – und so dramatische ökologische, soziale und finanzielle Folgen zu vermeiden. Mehr →